Die Jugendarbeitslosenquote in der EU liegt bei unglaublichen 23 Prozent. Mehr als zwei Millionen offene Stellen können dabei nicht besetzt werden. Daher stellt sich die Frage: Wie können die Bildungs- und Berufsbildungssysteme die Qualifikationen vermitteln, die der Arbeitsmarkt benötigt?
Hier muss Europa radikal umdenken! Angesichts der Sparmaßnahmen in vielen Ländern und der gekürzten Bildungsetats ist diese Herausforderung umso größer. Die Kommission stellt deshalb heute eine neue Strategie mit dem Titel „Neue Denkansätze für die Bildung“ vor, in der sie die Mitgliedstaaten ermutigt, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, damit jungen Menschen die auf dem Arbeitsmarkt gefragten Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen vermittelt und die Wachstums- und Beschäftigungsziele erreicht werden.
Androulla Vassiliou, EU-Kommissarin für Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit und Jugend, erklärte: „Bei den neuen Denkansätzen für die Bildung geht es nicht allein um die Finanzierung: Zwar muss sicherlich mehr in die allgemeine und berufliche Bildung investiert werden, doch ebenso notwendig ist es, die Bildungssysteme zu modernisieren und in die Lage zu versetzen, flexibler auf die realen Bedürfnisse unserer heutigen Gesellschaft zu reagieren. In Europa wird erst dann wieder ein nachhaltiges Wachstum einsetzen, wenn unsere Bildungssysteme hoch qualifizierte, vielseitig einsetzbare Arbeitskräfte hervorbringen, die zur Innovation beitragen können und über Unternehmergeist verfügen. Effiziente, zielgerichtete Investitionen sind hier von wesentlicher Bedeutung, während wir bei einer Kürzung der Mittel für die Bildung unsere Ziele nicht erreichen werden.“
In der Mitteilung „Neue Denkansätze für die Bildung“ ruft die Kommission dazu auf, in der Bildung den Schwerpunkt auf die „Lernergebnisse“ zu verlagern, d. h. auf die von den Lernenden erworbenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen. Einfach nur eine bestimmte Zeit an einer Bildungseinrichtung verbracht zu haben, darf nicht mehr ausreichen. Zugleich besteht nach wie vor erheblicher Nachholbedarf bei den Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen, und der Entwicklung von Unternehmer- und Initiativgeist muss in der Bildung größere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Damit die Bildung den Bedürfnissen der Lernenden und des Arbeitsmarkts besser gerecht wird, müssen auch die Bewertungsmethoden angepasst und modernisiert werden. Zugleich sollten in allen Lernumfeldern verstärkt Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sowie frei zugängliche Lehr- und Lernmaterialien (Open Educational Resources; OER) zum Einsatz kommen. Die Lehrkräfte müssen ihre eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten durch regelmäßige Fortbildungen auf den neuesten Stand bringen. Die Mitgliedstaaten werden in der Strategie dazu aufgerufen, Bildung und Arbeitswelt enger miteinander zu verknüpfen, unternehmerisches Handeln in den Unterricht zu integrieren und den jungen Menschen durch berufspraktisches Lernen einen Vorgeschmack auf das Arbeitsleben zu geben. Die Bildungsminister der Mitgliedstaaten werden außerdem ersucht, die Zusammenarbeit hinsichtlich des Lernens am Arbeitsplatz auf nationaler und europäischer Ebene zu verstärken.
Darüber hinaus wird unter anderem vorgeschlagen, eine neue Benchmark zum Erlernen von Fremdsprachen einzuführen, Leitlinien zur Bewertung und Weiterentwicklung unternehmerischer Bildung aufzustellen und eine EU-weite Wirkungsanalyse zur Nutzung von IKT und OER für Lernzwecke durchzuführen, um den Weg für eine neue Initiative zur Öffnung der Bildung im Jahr 2013 zu ebnen, die auf die optimale Ausschöpfung des Potenzials von IKT abzielt.
Hintergrund
Qualifikationen sind ein Schlüsselfaktor für Produktivität, und Europa muss auf die Tatsache reagieren, dass sich überall auf der Welt die Qualität der Bildung und das Qualifikationsangebot verbessert haben. Vorausschätzungen zufolge wird im Jahr 2020 mehr als ein Drittel der Arbeitsplätze in der EU Qualifikationen auf tertiärer Ebene erfordern, während nur 18 % der Arbeitsplätze auf gering qualifizierte Arbeitskräfte entfallen werden.
Derzeit verfügen 73 Mio. Europäerinnen und Europäer – rund 25 % der Erwachsenen – nur über ein geringes Bildungsniveau. Fast 20 % der 15-Jährigen haben Defizite beim Lesen und Schreiben, und in fünf Ländern erzielen mehr als 25 % der 15-Jährigen schlechte Leseleistungen (Bulgarien 41 %, Rumänien 40 %, Malta 36 %, Österreich 27,5 % und Luxemburg 26 %). Auch ist die Schulabbrecherquote in mehreren Mitgliedstaaten nach wie vor unannehmbar hoch; so beträgt sie etwa in Spanien 26,5 % und in Portugal 23,2 %, während die EU-Zielvorgabe bei unter 10 % liegt. Weniger als 9 % der Erwachsenen beteiligen sich am lebenslangen Lernen (EU-Ziel: 15 %).
Die in der Mitteilung „Neue Denkansätze für die Bildung“ abgegebenen Empfehlungen stützen sich auf die Ergebnisse des Anzeigers für die allgemeine und berufliche Bildung (Education and Training Monitor) 2012, eine neue jährliche Erhebung der Kommission zum Qualifikationsangebot in den Mitgliedstaaten.
Neue Denkansätze für die Bildung in Kürze:
- Auf allen Bildungsstufen muss der Entwicklung von Querschnittskompetenzen und Grundfertigkeiten größere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dies gilt insbesondere für unternehmerische und digitale Kompetenz.
- Neue Benchmark zum Erlernen von Fremdsprachen: bis 2020 sollten mindestens 50 % der 15-Jährigen über hinreichende Kenntnisse in einer Fremdsprache verfügen (derzeit sind es 42 %), und mindestens 75 % sollten eine zweite Fremdsprache erlernen (derzeit 61 %).
- Es muss in den Aufbau von Bildungs- und Berufsbildungssystemen von Weltrang investiert werden, und das berufspraktische Lernen muss verstärkt werden.
- Die Mitgliedstaaten müssen die Anerkennung von Abschlüssen und Qualifikationen verbessern – einschließlich solcher Qualifikationen, die außerhalb der formalen Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung erworben wurden.
- Der Nutzen der Technologie, insbesondere des Internets, muss voll ausgeschöpft werden. Schulen, Hochschulen und Berufsbildungseinrichtungen müssen den Zugang zur Bildung durch die verstärkte Nutzung von OER verbessern.
- Die Reformen müssen von gut ausgebildeten, motivierten, unternehmerisch denkenden Lehrkräften getragen werden.
- Mittel müssen verstärkt dort eingesetzt werden, wo sich Investitionen am besten rentieren. In den Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene muss eine Debatte über die Finanzierung der Bildung – insbesondere der Hochschul- und Berufsbildung – geführt werden.
- Ein partnerschaftlicher Ansatz ist unerlässlich. Sowohl öffentliche als auch private Investitionen sind notwendig, damit Innovationen angeschoben werden und damit akademische Welt und Wirtschaft fruchtbarer zusammenwirken.
Im Rahmen von Erasmus für alle, dem von der Kommission vorgeschlagenen Programm für allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport mit einem Budget von 19 Mrd. EUR, soll die Zahl der Personen, die zur Verbesserung ihrer Qualifikationen Stipendien für Studien- und Ausbildungsaufenthalte sowie Freiwilligentätigkeiten im Ausland erhalten, verdoppelt werden: auf 5 Millionen im Zeitraum 2014-2020. Mehr als zwei Drittel des Programmbudgets sind für diese Art der individuellen Lernmobilität vorgesehen, während die übrigen Mittel für Kooperationsprojekte in den Bereichen Innovation, Politikreformen und Verbreitung bewährter Verfahren bestimmt sind.
Die Kommission will am 5. Dezember ein Paket zur Jugendbeschäftigung einschließlich eines Vorschlags für eine Jugendgarantie vorlegen. Darin sollen die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert werden, dafür zu sorgen, dass allen jungen Menschen innerhalb von vier Monaten, nachdem sie die Schule verlassen haben oder arbeitslos wurden, eine hochwertige Beschäftigung bzw. Ausbildung oder ein hochwertiger Bildungsgang angeboten wird. Zu diesem Zweck ist auch eine umfassende Mobilisierung von EU-Mitteln, insbesondere aus dem Europäischen Sozialfonds, vorgesehen.